Ein Statement von Berliner Kulturschaffenden für Palästina

24 Oktober 2023

Während wir dies schreiben, wird der Gazastreifen täglich mit israelischen Raketen und weißem Phosphor beschossen. Ein israelischer Beamter hat den Wunsch geäußert, den Gazastreifen in eine „Zeltstadt” zu verwandeln, und ein israelischer Fernsehkommentator sprach von seinem Traum, den Gazastreifen „in Dresden" zu verwandeln. Allein in der ersten Woche fielen über 6000 Bomben auf das Gebiet des Gaza-Streifens, die bis heute über 5000 Palästinenser*innen im Gazastreifen das Leben gekostet haben, fast die Hälfte davon Kinder. Das israelische Militär hat wiederholt Krankenhäuser, zivile Konvois sowie Bäckereien und Wasserleitungen angegriffen. Durch die Luftangriffe wurden ganze Familienlinien ausgelöscht. Einige Familien haben sich getrennt, um an verschiedenen Orten Schutz zu suchen, so dass im Falle eines Bombenangriffs an einem Ort zumindest einige Angehörige überleben können. Seit Israel die Versorgung des Gazastreifens mit Treibstoff und Strom unterbrochen hat, gehen einem Großteil der Bevölkerung in der Enklave die Lebensmittel und das Wasser aus. Ohne Zugang zu medizinischen Hilfsgütern haben Ärzt*innen und Rettungskräfte Mühe, die Verwundeten zu versorgen. Am 14. Oktober schrieb ein Arzt: „Als ich gestern Abend vom nördlichen Gazastreifen zum Shifa [Krankenhaus] fuhr, war der Gestank verwesender Leichen überwältigend, wann immer ich an einem zerstörten Gebäude vorbeifuhr. Keine Zeit, die Leichen auszugraben.” Israel begann diese brutale Offensive nach Attacken der Hamas, bei denen mindestens 1400 Israelis getötet und mehr als 200 als Geiseln genommen wurden. Während Angehörige der israelischen Opfer fordern: „Do not use our pain to bring death”, setzt Israel seine Kampagne von Vertreibung und Bombardierung fort, eine erneute Form der Kollektivbestrafung, die auf einen eindeutigen Fall von ethnischer Säuberung hinausläuft. 

Dieser Angriff auf die palästinensische Bevölkerung in Gaza, die schon zuvor in „Freiluftgefängnis”, wie Human Rights Watch es nennt, verbarrikadiert war, wird von einem Großteil der selbsternannten freien Welt, allen voran den Regierungen der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands, bejubelt, finanziert und bewaffnet.

In Deutschland drohen jedem/r, der oder die es wagt, sich diesem Gemetzel öffentlich zu widersetzen – auf einer Kundgebung oder im Internet – Ächtung, Zensur, Verhaftung, Entlassung durch Arbeitgeber*innen und im Falle von Ausländer*innen die Abschiebung. Jeden Tag gibt es einen neuen Fall: das Verbot der Kuffiyeh und der palästinensischen Flagge bei Demonstrationen und in Schulen, präventive Polizeieinsätze in arabischen Vierteln, die Durchsuchung arabischer Jugendlicher und das Doxxing durch Medien von Menschen, die es wagen, ihre Solidarität zu bekunden. In Arbeit ist ein Gesetz zur Reform der Staatsbürgerschaft, das es dem deutschen Staat ermöglicht, Visa und Staatsbürgerschaft zu verweigern und Aufenthaltsgenehmigungen zu widerrufen, wenn der Vorwurf des Antisemitismus erhoben wird, wobei die IHRA-Kriterien zugrunde gelegt werden, die jede Kritik am israelischen Staat als antisemitischen Akt einstufen. Die Repressionstaktiken ändern sich ständig. Die Polizei nutzt ihren Ermessensspielraum, um Proteste aufzulösen und Demonstrierende zu verprügeln. Städtische und staatliche Behörden verbieten bestimmte Symbole und heben diese Verbote dann erst auf, nachdem die Bereitschaftspolizei bereits massive Gewalt eingesetzt hat. All dies führt zu einer allgegenwärtigen Atmosphäre der Angst, der Selbstzensur und des Misstrauens – in den sozialen Medien und am Arbeitsplatz, in Institutionen und auf der Straße.

Der vorgeschobene Grund für diese Unterdrückung ist die Bekämpfung von Fanatismus, insbesondere von Antisemitismus. Doch der Effekt ist auf jeder Ebene Rassismus. Auf der Grundlage einer gefährlichen Gleichsetzung von Israel und Jüdischsein bestrafen der deutsche Staat und die deutsche Zivilgesellschaft jeden Ausdruck von Solidarität mit den Palästinenser*innen, einem Volk, das einer weiteren Phase ethnischer Säuberung ausgesetzt ist. Dieser fehlgeleitete anti-Antisemitismus und die falsche Analogie, die er erzeugt, machen das jüdische Leben nach Meinung vieler Jüd*innen nicht sicherer. Sie verhindern auch, dass jüdische Stimmen gehört werden. Kürzlich wurde eine Demonstration "Gegen Gewalt im Nahen Osten" von den Behörden verboten, weil sie angeblich sowohl zu Gewalt als auch zu Antisemitismus aufrief, obwohl die Kundgebung explizit von jüdischen Berliner*innen organisiert worden war. Selbst Bernie Sanders, dessen Familie väterlicherseits in der Shoah von den Nazis ermordet wurde, wurde von der SPD-Vorsitzenden Saskia Esken heftig kritisiert, die sich weigerte, an einem Empfang teilzunehmen, weil er sich zum 7. Oktober geäußert hatte. Obwohl Sanders die Aktionen der Hamas in vollem Umfang verurteilte, konnte Esken nicht tolerieren, dass er auch seine Sorge um die mehr als eine Million Kinder in Gaza zum Ausdruck brachte.

Der nationale Kontext ist hier entscheidend. Die deutsche "Erinnerungskultur" nach der Wiedervereinigung–die staatliche Kampagne zur Aufarbeitung des deutschen Massenmordes an den Juden–hat eine erstaunliche zeitgenössische Form angenommen. Dieser staatlich geförderte Versuch, den Faschismus zu überwinden und Deutschland als einen sicheren Ort für jüdisches Kulturleben zu präsentieren, hat sich in einem historischen Widerspruch zu einer neuen Form des nationalen Chauvinismus verfestigt. Dass Palästinenser*innen vom deutschen Staat wegen ihres angeblichen Antisemitismus überwacht und getadelt werden müssen, zeugt von der Perversion, die dieses nationale Projekt mittlerweile antreibt: Völkermord begangen zu haben, ist zu einem Anspruch auf moralische Autorität geworden. Diese extrem enge Auslegungvon „Erinnerungskultur” hat das Phantasma hervorgebracht, dass der Antisemitismus unter den Deutschen weitgehend besiegt ist; trotz der Tatsache, dass rechtsgerichtete Deutsche für 83% der antisemitischen Hassverbrechen verantwortlich sind, ist die wahre Bedrohung heute angeblich der "importierte Antisemitismus", an dem Ausländer*innen, insbesondere Araber*innen, schuld sind.

Da der Kultursektor insbesondere international ist, werden Künstler*innen, Schriftsteller*innen und Kurator*innen aus dem Ausland, insbesondere aus dem globalen Süden, häufig und grundlos der Bigotterie bezichtigt, weil sie sich mit dem palästinensischen Kampf solidarisch erklären. Da die Kultur selbst in hohem Maße von öffentlichen Geldern abhängig ist, ist sie praktisch zu einem Arm der deutschen Außenpolitik geworden. Die Ankündigung der Frankfurter Buchmesse, sie stehe "mit voller Solidarität an der Seite Israels", ist nur das jüngste prominente Beispiel dafür. Die palästinensische Schriftstellerin Adania Shibli wurde von der Verleihung eines Preises ausgeschlossen, da der Direktor der Messe, Jürgen Boos, darauf bestand, dass die jüngsten Ereignisse die Organisator*innen dazu zwingen, "jüdische und israelische Stimmen besonders sichtbar zu machen". Gleichzeitig stellt auf der Messe ein Neonazi-Verleger aus, der die Abschiebung der afrodeutschen Schriftstellerin Jasmina Kuhnke forderte, nachdem sie sich aus Protest gegen die Anwesenheit von Nazis von der Messe zurückgezogen hatte. Indem sie jegliche Kritik an Israel zum Schweigen bringen, klingen sogar selbsternannte Progressive fast genauso wie Deutschlands wachsende rechtsextreme Partei, die Alternative für Deutschland (AfD).

Wir lehnen dieses hasserfüllte, systematische Zum-Schweigen-Bringen nicht nur ab, weil es die Meinungsfreiheit bedroht, sondern weil der Missbrauch der historischen deutschen Schuld genau die Unterdrückung wiederbelebt, gegen die wirkliches „Gedenken" wirken sollte. Wenn Kultureinrichtungen und Kulturarbeiter*innen weiterhin der staatlichen Politik folgen und die Zensur von Solidaritätsbekundungen mit dem palästinensischen Kampf zulassen, schaffen sie einen erschreckenden Präzedenzfall. Wir dürfen nicht zulassen, dass der deutsche Staat den Autoritarismus gegen abweichende Meinungen, insbesondere gegen solche, die sich gegen Rassismus und Kolonialismus wenden, weiter festigt. Die Unterstützung des deutschen Staates für die Belagerung des Gazastreifens entschuldigt nicht die historischen Verbrechen Deutschlands, sondern birgt die schreckliche Gefahr, dass sie sich wiederholen. Als Menschen, die hier leben und arbeiten, haben wir die Pflicht, unsere Stimme zu erheben.

Dieses Statement ist mehr als eine Diagnose oder Beschwerde: Wir schlagen Alarm. Wir fordern Kultureinrichtungen und Kulturschaffende in Deutschland auf, sich zu positionieren: gegen historisches Unrecht und ethnische Säuberung.